It’s a beautiful day – somewhere…

Unsere 3,5-tägige Wanderung durch den Gros Morne NP in Newfoundland beginnt mit einer Schifffahrt, hinein in einen tief eingeschnittenen Fjord mit spektakulären Wasserfällen. Man kann das graue, regnerische, wolkenverhangene Wetter interpretieren wie man möchte: Entweder beschließt man, dass es ganz vorzüglich zu dieser Landschaft passt oder man ärgert sich, dass einem die ganz große Fernsicht flöten geht. Beides stimmt irgendwie.

Der Kapitän des Schiffes begrüßt uns mit einem Lächeln und einem optimistischen „It’s a beautiful day“. Und etwas leiser: „Somewhere on the world, but definitely not here”. Unsere dicken Rucksäcke beäugt er etwas mitleidig. Na, das fängt ja gut an…

Nach einer Stunde Fahrzeit an senkrechten Felswänden vorbei werden wir zusammen mit 2 einheimischen Wanderern am Ende des Fjordes abgeladen. Während wir von Bord gehen, erklärt ein Crewmitglied des Ausflugsschiffes über Mikrofon, dass es in diesem anspruchsvollen, rauen Gebiet keine markierten Wanderwege gibt. Man sollte über gute Orientierung und noch bessere Navigationskenntnisse verfügen und ebenfalls viel „Outdoorerfahrung“ mitbringen. Er wünscht uns viel Glück. Dass ich das am Tag 3 der Wanderung tatsächlich brauche, ahnen wir jetzt noch nicht. Immerhin sind wir vom Nationalpark mit einem Notfallsender (und einem obligatorischen, eher abschreckenden Informationsgespräch) ausgestattet worden. Das ist viel mehr Sicherheit, als wir bei unserer Wanderung vor einem Jahr im Yukon hatten.

Wenig später befinden wir uns auf dem Abschnitt, der laut Beschreibung „der am besten erkennbare“ Teil der gesamten Route sein soll. Aha. Die Beschreibung hat, wie so oft, nur Marcus gelesen. Nach dieser Route nehme ich mir allerdings vor, ab jetzt alle Beschreibungen sorgfältig und akribisch zu studieren.

Ziel des Tages ist es, aus dem schon beschriebenen, steil eingeschnittenen Fjord hinauf auf eine Art Hochplateau (Tundra) zu gelangen, auf dem wir dann auch mehr oder weniger die nächsten Tage bleiben. Wir robben auf Knien oder in Schräglage unter großen Felsbrocken entlang, kriechen unter oder über Baumstämmen/Baumwurzeln hindurch bzw. hinweg, balancieren auf Steinen an Felsvorsprüngen vorbei, klettern mehr als das wir wandern irgendwelche Felsen hinauf, queren den (durch das Gefälle oft beeindruckend schnell fließenden) Fluss, an dem wir die nasse Schlucht hinaufwandern, gefühlte 20 Mal und verlieren vielleicht genauso oft den „Weg“. Manchmal fragen wir uns, ob es hier wirklich noch weitergeht, so steil, steinig und unwegsam erscheinen uns Teile von besonders zugewucherten Abschnitten. Und ich frage mich ernsthaft, wie es denn bitteschön weitergeht, wenn das ein einfacher Abschnitt sein soll. Haben wir uns dieses Mal vielleicht überschätzt? Aber: Es macht richtig oft auch einfach richtig fett Spaß. Trotz des Nieselregens und des grauen, sehr wolkenverhangenen, kalten Wetters.

Als wir fast oben sind geht ein Rivercrossing von mir schief. Mein rechter Fuß wird bis zum Knöchel überspült und ich bin richtig genervt, als mir der Schwall kalten Wassers den Wanderstiefel füllt. Ade, trockne Füße… Hätte ich in dem Moment schon gewusst, was der nächste Tag so mit sich bringt, hätte ich bei diesem Zwischenfall noch nicht mal gezuckt…

Oben angekommen erhaschen wir den wirklich atemberaubenden Blick hinein in den Fjord. Er ist ziemlich wolkenverhangen, aber ich bin dankbar, dass wir überhaupt etwas sehen…

Es ist noch ziemlich weit bis zum Campground Nr. 1, der sumpfige, nasse Untergrund überzeugt uns allerdings davon, wirklich bis zum Camp weiter zu gehen. Wir folgen jetzt tatsächlich Wegen, deren Beschaffenheit ich an Tag zwei genau beschreiben werde 😊. Irgendwann auf dem Weg wird es dunkel, wir wandern mit Kopflampen weiter. Und irgendwann gegen halb neun kommen wir tatsächlich am Ziel an. Alles ist nass und es regnet immer noch: Zeltaufbau im Regen und mit den nassen Klamotten rein ins Zelt. Juhu, was für ein unglaublicher Spaß… Irgendwann tauchen in der Dunkelheit die Kopflampen der beiden anderen Wanderer auf. Auch sie hatten so ihre Mühe mit der Schlucht.

 

Tag 2

Im Hellen (und Trocknen!) bewundern wir den wunderschönen Platz am See. Für einen kurzen Moment wird die Freude leicht getrübt: Ich wringe meine nassen Socken aus und steige in die durch und durch nassen, kalten Wanderschuhe. Sie interessieren sich schon lange nicht mehr dafür, dass sie eigentlich wasserdicht sein sollen. Herrlicher Start in den Tag!

Die Sorge von gestern bleibt unbegründet: Ab jetzt folgen wir tatsächlich klaren Wegen. Allerdings sollte man sich NIE auf der sicheren Seite wähnen, denn man weiß NIE, was für einem Trail man eigentlich gerade folgt. Es gibt viele Wildwechselpfade, Pfade von Einheimischen, die hier oben Jagdrecht haben – und viele Wege von Wanderern, die versucht haben, auf dem richtigen Weg zu bleiben…. Wir gewöhnen uns an, in sehr kurzen Abständen das GPS zu befragen, ob wir noch in die richtige Richtung wandern.

Die Wege sind hilfreich. Die morastigen, sumpfigen Wege sind allerdings auch nass, sehr nass sogar. Die Wege können außerdem sehr „tiefgründig“ sein. Manchmal verschwindet der Wanderstock ohne Vorwarnung in irgendwelchen matschigen Untiefen. In einem besonders schönen Moment, kurz nachdem ich meine Regenhose wegen des wirklich wunderbar sonnigen Wetters ausgezogen habe, verschwindet nicht der Wanderstock, sondern mein linkes Bein in einem überwachsenen, tatsächlich nicht erkennbaren Loch. Es verschwindet bis oberhalb des Knies bzw. Mitte des Oberschenkels. Dieser Moment, wenn bei (trotz des Sonnenscheins) sehr herbstlichen Temperaturen das kalte Wasser in den Schuh läuft, das Material gänzlich sättigt – und sich dann auch noch die Hose blitzschnell vollsaugt und nass am Bein klebt ist wirklich sehr, sehr, SEHR erhebend… Immerhin ist meine schlechte Laune (in der aber lieber niemand meine Gedanken lesen sollte…) nicht von langer Dauer. Die Sonne scheint, die Landschaft ist gigantisch schön und leuchtet im Sonnenlicht, die Hose trocknet wieder und trockene Füße habe ich für die nächsten Tage eh abgeschrieben. Ich fühle mich wunderbar.

Wir kommen schon nachmittags an einem so schönen Camp an, dass wir beschließen, den Tag, das Wetter, die Aussicht und unser Leben genau hier und jetzt zu genießen – und unsere Schuhe zumindest ein wenig zu trocknen. Die Wettervorhersage für Morgen ist ziemlich durchwachsen…

Das Sahnehäubchen für den Tag gibt es abends in der Dunkelheit (während das Kondenswasser bereits kurz nach Sonnenuntergang auf dem Zelt gefriert): Ein großer Elchbulle mit absolut krassem Geweih kommt genauso zielstrebig wie gelassen direkt auf unser Zelt zu und läuft dann ca. 5m neben uns vorbei. Staunen, schweigen, genießen…

 

Tag 3

Das Gute an diesem Tag: Morgens ist es so lange trocken, bis wir loswandern. Das ist wirklich viel Wert. Außerdem werden wir aus sicherer Entfernung ziemlich offensichtlich und lange von einer Elchkuh beobachtet. Ich glaube, wir stehen auf ihrem Weg. Sie hat aber nicht die Traute, einfach an uns vorbei zu marschieren. Kurz frage mich, wie es sich wohl anfühlt, Tiere in so einem Moment abzuschießen. Anderes Thema…

Das Wetter wird über den Tag zunehmend schlechter. Waren die Wolken zunächst noch weit oben am Himmel, sind wir irgendwann einfach mittendrin. Der Wind kommt ebenfalls auf Touren und lebt sich zeitweise so richtig aus. Schön für ihn. Trotz der ziemlich rauen Bedingungen genieße ich die Wanderung mit jeder Faser. Ich kann gar nicht genau sagen, warum. Ich fühle mich maßlos energiegeladen, lebendig und ruhig zugleich und erfreue mich tatsächlich noch an der Landschaft um uns rum, auch wenn sie zeitweise in den Wolken verschwindet. Die weite Wildnis und die Ursprünglichkeit sind schwer zu beschreiben. Man muss sie sehen.

Immer mal wieder verlieren wir kurz den Weg, was nicht weiter tragisch ist. An einer Stelle allerdings wird es fast tragisch. Im Nebel, Nieselregen und Wind erahnen wir den Weg in ca. 20m Entfernung und sind durch einen zugegebenermaßen nassen, aber auch nicht viel schlimmer als vorher erscheinenden Bereich davon getrennt. Wenn die Füße (mutmaßlich) eh nicht mehr nasser werden können, wird man vielleicht etwas leichtsinnig.
„Gerade rüber, oder?“ sage ich zu Marcus und gehe weiter. Ein paar Schritte sind halt nass, wie erwartet. Irgendwann allerdings mache ich einen Schritt mit meinem rechten Fuß, der anders ist. Der Boden gibt unter mir nach. Etwas zu schnell ziehe ich den linken Fuß nach – und beginne zu versinken. Der sumpfige, nasse Boden bietet nach unten keinen Halt mehr. Ich verschwinde bis zur Hüfte im Matsch und habe nichts mehr um mich rum, was mir Halt bieten kann. Panik erfasst mich. Die Schuhe laufen voll, werden dadurch noch schwerer und scheinen mich zusätzlich nach unten zu ziehen. „Ich komme hier nicht mehr raus“, brülle ich Marcus überflüssigerweise zu. Meine Lage ist auch ohne diese Info klar ersichtlich. So müssen sich Menschen im Treibsand fühlen, denke ich noch. Marcus ist zu weit weg, um mir eine Hand zu reichen und schlau genug, um sich nicht auch noch in diesen Bereich hineinzubegeben. „Gib mir Deinen Trekkingstock“ brüllt er mir seinen ebenso einfachen, wie genialen Einfall zu. Ich ziehe einen Stock mühsam aus dem Matsch und reiche ihn Marcus. Festhalten, schön festhalten! Allerdings bin ich nass und schwer, denke nicht dran, meinen dicken Rucksack abzumachen und der dichte Matsch erschwert das Ziehen zur Seite erheblich. Kurz glaube ich, nicht genug Kraft zu haben, um mich weiter festzuhalten. Am Ende klappt es doch. Nachdem ich bis zum Bauchnaben weg war, habe ich irgendwann (nach einer gefühlten Ewigkeit, die in Wirklichkeit viel weniger als eine halbe Minute war) wieder festen Boden unter den Füßen.
Atmen, jetzt immer schön Atmen. Wir gehen in einem etwas weiteren Bogen zum anvisierten Weg.
Einatmen, ausatmen. Die Füße auf dem Boden spüren. Diese eigentlich „nur“ erdende Achtsamkeitsübung bekommt eine ganz neue Dimension für mich, während uns der Wind genau jetzt von vorne scharf ins Gesicht peitscht. Es regnet stark. Wenn schon, denn schon…
Hinter einem Felsen machen wir kurz Rast, ich leere meine Schuhe aus und wringe die Socken aus. Mehr ist nicht drin. Es geht eben doch noch schlimmer als bloß nasse Füße… Und es gibt nasse Füße und sehr, sehr, sehr nasse Füße, wie ich jetzt weiß. Trotzdem kann ich schon wieder Lachen. Aus Erleichterung. Wieder um eine Erfahrung reicher. Ich liebe Wandern. Ehrlich. Jetzt vielleicht sogar noch mehr.

Wir laufen lange an dem Tag. Die Landschaft ist und bleibt wild, weit, einsam und einfach wunderschön. Am späten Nachmittag wartet bei leichtem Regen, Nebel und scharfem Wind noch das zweite von zwei ernstzunehmenden Rivercrossings auf uns. Da das kalte Wasser des breiten Flusses durch die hohe Fließgeschwindigkeit und der schlechten Sicht schwer einzuschätzen ist, ziehe ich meine Wanderhose trotz der kalten Temperaturen und des kalten Windes komplett aus. Dieser Tag hat es einfach in sich. Beim letzten, ziemlich tiefen Abschnitt weiß ich, dass diese Entscheidung goldrichtig war…

Später zelten wir zusammen mit Rebecca und Nick, den beiden anderen Wanderern. Was für ein Tag.

Tag 4

Das Wetter ist wieder auf unserer Seite. Mit Sonnenschein laufen wir die letzten 6 oder 7 km der Tour. Die Magie und Wirkung dieser Wanderung werden mich für Tage nicht mehr loslassen. Hier ging es gefühlt nicht (nur) um die schöne Landschaft oder tolle Blicke und Erlebnisse. Hier ging es irgendwie um „Essentielleres“. Vielleicht um ein über sich hinauswachsen? Um die fast bedingungslose Hingabe an das, was man gerade tut - ohne zu Zweifeln? Darum, dass nicht immer alles glatt laufen muss, um es in vollen Zügen genießen zu können, weil genau das eben das pure Leben ist? Dass intensive, nicht planbare Momente unendlich lebendig machen? Ging es gar um Vertrauen?? Vielleicht ging es aber auch um etwas ganz, ganz anderes.

Nach der Wanderung trocknen wir nachmittags auf unserem einsamen Lieblingspicknickplatz direkt an der rauen, wilden und wunderschönen Küste unsere Sachen. Die Sonne lacht vom Himmel und sogar der Wind ist milde gestimmt. Am liebsten würde ich gleich wieder loswandern…

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